Wir dokumenieren hier einen Beitrag für den Newsletter von Jugend für Sozialismus im August 2024, der über die aktuelle Situation in Bottrop berichtet.
von Sven Hermens, Ratsmitglied und Bezirksvertreter in Bottrop und JfS-Mitglied
Der einstigen “Herzkammer der Sozialdemokratie” droht ein Infarkt. Die AfD hat bei den Europawahlen im Ruhrgebiet die SPD in Ortsteilen überholt, in denen die SPD bis zuletzt fast absolute Mehrheiten hatte. Der gescheiterte Strukturwandel und jahrzehntelange Sparpolitik treiben die Menschen massenweise in die Arme von Rechtsradikalen. Dieses Phänomen lässt sich beispielhaft in Bottrop beobachten.
Mit dem Ausstieg aus der Steinkohle sind im Ruhrgebiet, das mehr Einwohner:innen hat als Berlin, unzählige Arbeitsplätze verloren gegangen, die vergleichsweise starken Tarifverträgen unterlagen. Gleichzeitig fehlen der öffentlichen Hand durch den enormen Verlust an Steuereinnahmen aus diesem Bereich die Mittel, um das öffentliche Leben auch nur ansatzweise auf dem Niveau vor dem Kohleausstieg zu halten. Hinzu kommen krass gestiegene Ausgaben z.B. durch höhere Arbeitslosigkeit oder durch notwendige Maßnahmen, um Quartiere vor der Verwahrlosung zu bewahren.
Aufgefangen oder ausgeglichen wurden diese Folgen für die Region nie wirklich. Die betroffenen Städte verarmen als Kollateralschaden für eine Klimapolitik, die Reiche möglichst verschont und Armut zementiert. Die Zeche für den Strukturwandel zahlen — entgegen aller vorherigen leeren Versprechen — die Menschen, die in den Gebieten wohnen.
Dazu kommen die Kosten für Migration und Integration, gestiegene Energiepreise, vervielfachte Baukosten, allgemeine Teuerung und Klimaschutz. In NRW leben die Kommunen wesentlich von Geld, das das Land zur Verfügung stellt. Zusätzliche finanzielle Mittel kommen z.B. noch von der Gewerbesteuer oder anderen kommunalen Einnahmen. Die sind wie oben beschrieben natürlich geringer ohne den Bergbau.
Bei ca. 6 % Inflation im letzten Jahr (Baukosten und Energie weit darüber) sind aber die Mittel des Landes NRW für die Kommunen nur um lächerliche 0,9 % angehoben worden. Das ist leider keine neue Entwicklung, sondern nur die bemerkenswerte Spitze eines jahrzehntelangen Projekts. Denn die Kommunen in NRW sitzen seit Ewigkeiten auf zig Milliarden Euro Altschulden, die durch steigende Zinsen immer mehr zur Belastung werden. Und Abhilfe will NRW nur schaffen, wenn NRW kaum bis nichts bezahlen muss — denselben Standpunkt vertritt auch der Bund. Ein elendiges Theater.
Manche Städte wie z.B. Gelsenkirchen haben aber durch andere industrielle Standbeine noch Puffer in der Stadtkasse bzw. bei guten Arbeitsplätzen. Wenngleich auch dort die Lage der öffentlichen Infrastruktur katastrophal ist, wäre man — den politischen Willen vorausgesetzt — theoretisch handlungsfähig, um einzugreifen.
Solche Standbeine fehlen in Bottrop, wo die durchschnittlichen Einkommen noch weit unter denen in Gelsenkirchen liegen. Denn seit dem Wegfall der Kohle setzt Bottrop stark auf die Freizeitwirtschaft. Freizeitparks wie der Movie Park, Skydiving, Skihalle, Escape-Rooms. Das sind nicht nur Angebote, die für viele Bottroperinnen und Bottroper nicht bezahlbar sind, sondern es schafft vor allem mies bezahlte und ständig befristete Arbeitsplätze, von denen niemand auskömmlich und sicher leben kann. Und es wirft kaum Einnahmen für die Stadt ab, wie sie z.B. Stahlindustrie oder Energieunternehmen in anderen Kommunen liefern können. Neben Tourismus siedelt sich in Bottrop vor allem Logistik an. Riesige Hallen, die viel Platz verbrauchen (von dem Bottrop kaum mehr welchen hat), wo nur wenige und dann noch unterbezahlte Arbeitsplätze entstehen. Von den Auswirkungen auf Straßeninfrastruktur oder Emissionen ganz zu schweigen. Es fehlt also auch die Perspektive für wertschöpfende Industrie in Städten wie Bottrop.
Kurzum: Bottrop ist pleite und es droht die völlige Überschuldung. In so einem Fall müssen Kommunen in NRW für 10 Jahre einen Plan aufstellen, mit dem wieder die schwarze Null einzuhalten wäre — das “Haushaltssicherungskonzept (kurz HSK)”.
Bis vor kurzem war Bottrop schon einmal 10 Jahre in so einem Kürzungsplan. Damals ist beispielsweise der “Bottrop-Pass” gestrichen worden, mit dem Sozialleistungsbeziehende vergünstigten Eintritt zu Einrichtungen und Veranstaltungen bekommen haben. Sogar die regelmäßigen Zuschüsse für die örtliche Suppenküche hat man damals gestrichen.
Als das erste Kürzungsprogramm mitten in der Pandemie auslief, folgte mit dem Ukraine-Krieg und den Kostensteigerungen keine 3 Jahre später wieder ein Defizit. Auch die Kosten aus der Coronapandemie müssen nun abbezahlt werden. Die schwarze Null war eine Luftnummer, die keine drei Jahre gehalten hat und auch nicht — wie von Neoliberalen gepredigt — für nachhaltige Stadtfinanzen gesorgt hat. Im Gegenteil.
Ab 2024 gilt nun für weitere 10 Jahre ein HSK für Bottrop mit noch undenkbaren Einschnitten. So wird ein Programm mit Musik- bzw. Instrumentalunterricht für Kinder, die sich das sonst nicht leisten könnten, eingestellt. Obwohl durch die Zuwanderung die Zahl von Schülerinnen und Schülern extrem steigen wird, werden keine neuen Schulsozialarbeits-Stellen geschaffen. Das Ferienprogramm für Kinder wird gestrichen. Das Museum schließt 52 Tage pro Jahr zusätzlich. Drastischer Personalabbau soll in der Stadtverwaltung geschehen, wo jetzt schon in Unterbesetzung tausende Überstunden geschoben werden. Sogar ganze Buslinien sollen trotz Klimawandel eingestellt werden. Absurd wird es auch, wenn z.B. invasive Pflanzen nicht mehr bekämpft werden sollen, die sich exponentiell ausbreiten, sodass es noch teurer wird, sie irgendwann zu entfernen. Das verdeutlicht: Es geht nicht darum, tatsächlich Geld zu sparen oder auf unnötige Ausgaben zu verzichten. Sondern es geht einzig darum, für das jeweils laufende und nächste Jahr eine imaginäre schwarze Null zu erzeugen; auch wenn das in 5, 10 oder 50 Jahren um ein vielfaches höhere Kosten produziert.
Aber selbst der vollständige Verzicht auf alles könnte das Defizit niemals ausgleichen. Denn selbst wenn Bottrop auf sämtliche “freiwilligen” Ausgaben (z.B. Ferienprogramme, extra Buslinien, Stadtteilprojekte, …) verzichten würde, würden die Einnahmen nicht einmal mehr reichen, um die gesetzlich vorgegebenen Pflichten (z.B. Schulgebäude, Feuerwehr, …) zu bezahlen. Also ist auch das Sparen in den kommenden 10 Jahren nicht nur ein nie da gewesener Sozialabbau, sondern auch noch völlig nutzlos.
Eigentlich ist es sogar nach der recht konservativen Landesverfassung von NRW verboten, dass das Land den Kommunen nicht genug Geld für all ihre Aufgaben gibt. Sogar den bürgerlichen Parteien in den Räten und Bürgermeisterämtern wäre es demnach möglich, dagegen zu klagen, statt in vollem Gehorsam an Kürzungen zu arbeiten. Wenn sie das denn wollten.
Im Protest gegen diese Kürzungen verdeutlicht die Linksjugend Solid Bottrop mit der Gruppe “Bottroper Sozialistinnen und Sozialisten” im Rat der Stadt, dass mit der schwarzen Null und der Kürzungspolitik die gesamte verbliebene öffentliche Infrastruktur abgerissen werden soll. Für verschiedene kreative Aktionen, z.B. vor besagtem Museum, haben die Aktiven den Oberbürgermeister von Bottrop, Bernd Tischler, als Abrissbirne gebastelt und unter dem Motto “Stoppt den Abriss-Bernie” gegen den Sparplan demonstriert. Zum bundesweiten Aktionstag der Linksjugend zum Kürzungshaushalt des Bundes mit einer gemeinsamen Aktion mit den Basisgruppen Oberhausen und Münster und mit einer gelungenen Inszenierung, die den Bogen zur Bundespolitik spannt.
Die AfD sitzt in Bottrop mit 4 von 58 Sitzen im Stadtrat und verzeichnet so gut wie keine Aktivität. Dennoch wird sie bei den Kommunalwahlen im Herbst 2025 extreme Zugewinne verzeichnen können. Das zeichnete sich spätestens mit der Europawahl ab.
Im Ruhrgebiet sind viele Städte sichtbar geteilt. Der Süden von Bottrop und Gelsenkirchen bildet mit dem Norden von Essen eine Region, die von extremer Armut, hoher Arbeitslosigkeit, höchsten Migrationsraten — und höchsten AfD-Wahlergebnissen geprägt ist.
Dabei hatte im Bottroper Süden eigentlich immer die SPD absolute Mehrheiten und auch die DKP hatte dort ihre letzte Hochburg, fuhr bis vor wenigen Jahren gute zweistellige Werte ein. Bei der Europawahl hat jedoch die AfD mit der SPD in diesen Quartieren gleichgezogen,
und sie in einigen Stadtteilen mit Ergebnissen über 30 % klar überholt. Die DKP holte in ganz Bottrop (120.000 Einwohner) nur noch 87 Stimmen. Protestwahl ist nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch im Ruhrgebiet ganz klar nicht mehr links‑, sondern rechtsradikal. Und die einstige rote Herzkammer wird 2025 vollständig schwarz, mancherorts braun werden.
Auf der anderen Seite dieser imaginären Grenze, also im Bottroper/Gelsenkirchener Norden und im Essener Süden, lebt es sich für wohlhabendere Menschen — fernab dieser in bestimmte Gebiete verdrängten Probleme — umso besser. Dort fahren regelmäßig CDU und FDP gute Ergebnisse ein, die CDU so stark, dass sie die meisten Wahlen gewinnen wird. Die AfD fällt in diesen Stadtteilen oft weit unter 10 %.
Nur von einer Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland zu reden, macht nach wie vor wenig Sinn. Die Grenze verläuft in jedem Bundesland, in jeder Stadt zwischen Arm und Reich.
Doch das Sparen stärkt nicht nur massiv die AfD durch Protestwähler. Es manifestiert auch die Zustände, die den Aufstieg des Faschismus ermöglichen. Denn kommunale Demokratie ist während der 10 Jahre einer Haushaltssicherung de facto ausgesetzt. Würde man nämlich irgendetwas beschließen wollen, das als freiwillige Ausgabe Geld kostet, beispielsweise um abgehängte Stadtteile zu fördern, müsste man entweder an anderer Stelle eine gleich hohe Einsparung vornehmen, oder kann es direkt sein lassen. Denn: Das Land bzw. die zuständige Bezirksregierung des Landes muss die Haushaltsführung einer Stadt explizit genehmigen. In dutzenden Städten in NRW wird es bis Ende der 2030er Jahre nahezu überflüssig sein, Kommunalparlamente zu wählen, und selbst gewählte Mandatsträger:innen dürften nicht einmal wesentliche Verbesserungen durchsetzen. Es verfestigt sich also in armen Bezirken der völlig berechtigte Eindruck, dass Wählen zu keinerlei Veränderung führt, ein Rat in egal welcher Zusammensetzung keine Verbesserung herbeiführen kann (weil er es selbst mit entsprechenden Mehrheiten nicht dürfte) und dass man dann eben auch AfD wählen könne in der Hoffnung auf einen möglichst großen Aufschrei.
Nehmen wir das Beispiel “Schulklassen, in denen kein Kind mehr deutsch spricht”. Das ist kein Strohmann der AfD, sondern Realität an manchen Grundschulen bei uns. Angesichts der internationalen Konflikte und Fluchtbewegungen auch nicht weiter verwunderlich oder besonders unvorhergesehen. Aber es ist gut popularisierbar. Die Lösungen, wie z.B. mehr Deutschkurse, mehr Räume für Schulen zu schaffen oder mehr Personal anzustellen, liegen auf der Hand. Im Sparhaushalt darf aber ein Stadtrat solche Angebote nicht schaffen (ohne woanders massiv zu kürzen). Da kommt eine AfD ins Spiel, die mit “Ausländer raus” vermeintlich auch das Problem lösen kann — ohne dass es dabei die Öffentlichkeit nicht vorhandenes Geld kostet.
Klar ist, unser Antifaschismus muss sich nicht nur konsequent in allen Belangen gegen die AfD stellen, sondern er muss sich in erster Linie massiv gegen die Politik der Verarmung und Sozialkürzungen von SPD, Grünen, Union und FDP richten, die den Aufschwung der Rechten erst ermöglicht. Die Schuldenbremse ist das Gaspedal der Rechtsextremen im Rennen an die Macht.
Wir müssen als Sozialist:innen in eben die oben genannten Stadtteile gehen, sie bei ihren Problemen politisch mit Nach- und Eindruck unterstützen und die sozialistische Alternative zu neoliberalen Kürzungen und gleichzeitig zu rechtsradikalen Bauernfängern sein. Es ist wichtiger denn je, dass wir Sozialist:innen den öffentlichen Diskurs weg von Migrationsdebatten und hin zu den Verteilungsfragen lenken, die wirkliche Veränderungen bewirken können.